Vor etwa 500 Jahren wurde vor dem Esslinger Tor in Stuttgart auf der Steige, auf der man von Stuttgart nach Esslingen gelangen konnte, ein Mann aufgefunden, der offenbar erstochen wurde. Obwohl man den Tatort genau absuchte, fanden sich keine Spuren vom Täter. Es handelte sich bei dem Toten um Amandus Marchtaler, ein Esslinger Bürger, 60 Jahre alt. Marchtaler war reich und er hatte keine Verwandten außer einem Neffen, dem Matthäus Wels. Dieser erbte nun alles, was Marchtaler besessen hatte: Das Stadthaus, die Äcker und das viele Geld.
Es vergingen zwei Jahre.
Der Postreiter Michael Banhard trottete wie jeden Tag auf seinem Schimmel auf der Esslinger Steige von Stuttgart nach Esslingen zurück.
Plötzlich hielt er an, stieg vom Pferd und hob einen Ring auf, den er im Sonnenlicht hatte aufblitzen sehen. Es war ein goldener Siegelring mit einem eingravierten Wappen, das er aber nicht kannte. Er steckte ihn an seinen Finger.
Wie es seine Gewohnheit war, stieg er an der Poststation in Esslingen ab, versorgte sein Pferd und kehrte in der Postschenke ein.
Seine Trinkgenossen entdeckten bald den Ring und erkannten auch das Wappen als das des Amandus Marchtaler.
Heimlich schlich sich einer aus der Wirtsstube und schon bald darauf erschienen die Stadtknechte, beschuldigten den Postmichel des Mordes und nahmen ihn mit.
Michael Banhard wurde im Wolfstorturm eingesperrt. Man forderte ihn jeden Tag auf, seine grausige Tat zu gestehen.
Der Postmichel beteuerte aber stets seine Unschuld.
Monatelang saß er schon im Kerker und es gab immer noch keine Beweise und kein Geständnis. Der Postmichel wurde nun gefoltert und gequält. In alten Büchern sind diese Folterungen beschrieben und in Rothenburg ob der Tauber kann man in einem Museum die Folterwerkzeuge betrachten, mit denen im Mittelalter Menschen so lange gepeinigt wurden, bis sie eine Tat eingestanden. Tagelang wurde der Arme geschunden. Sein Schreien drang heraus aus den dicken Kerkermauern und war in ganz Esslingen zu hören. Schließlich konnte er die Schmerzen nicht länger aushalten. Lieber tot sein als so leiden zu müssen. In seiner Qual stöhnte er schließlich: „Ich bin der Mörder, lasset mich endlich sterben“.
Das Todesurteil wurde sofort über ihn gesprochen und der Scharfrichter aus Stuttgart herbestellt. Als es soweit war, setzte man den Postmichel auf sein Pferd und hängte ihm sein Horn um. Danach führte man ihn durch die engen Gassen der Stadt, vorbei auch an des Marchtalers Haus. Aus einem der Fenster schaute mit unbewegtem Gesicht dessen Neffe Matthäus Wels auf den vermeintlichen Mörder herab. Durch das Pliensautor über die Pliensaubrücke ging der Zug weiter zur Richtstelle auf der anderen Neckarseite.
Als letzten Wunsch erbat sich der Verurteilte, noch einmal auf seinem Horn blasen zu dürfen, und – so setzte er hinzu – künftig werde er so lange immer zu Michaelis in der Nacht vor des Richters Haus blasen, bis der wahre Mörder entdeckt sei, denn er sei unschuldig. Wie er nun sein Horn ansetzte und die ersten Töne blies, tat der Scharfrichter mit dem Richtschwert seine Pflicht – und Kopf und Hand fielen in den Sand.
Aber immer in der Michaelisnacht, das ist am 29. September, erschien Jahr für Jahr ein Reiter, den Kopf unter dem Arm, das Horn an die Lippen gesetzt, vor des Richters Haus, stieß in sein Horn und verschwand wieder.
Und noch einer hörte das Horn um dieselbe Zeit: Matthäus Wels. Er war nämlich der Mörder seines Onkels. Aus Angst vor dem Gespenst des Postmichels und von seinem Gewissen getrieben, verließ er Esslingen. Doch überall, wo er sich in der Welt auch aufhielt, musste er sich das Horn des Postmichels anhören.
Nach 40 Jahren begehrte ein todkranker Mann Aufnahme in das Esslinger Spital. Auf dem Sterbebett bekannte sich Matthäus Wels zu seiner Tat.
Der Postmichel fand dadurch nun endlich auch seine Ruhe und sein Horn schwieg von diesem Tage an.